Gesellschaft
Das Verhältnis von Staat und Religion
Diese stets aktuelle Frage nach dem Verhältnis zwischen dem, was dem Kaiser gebührt, und dem was Gott gebührt, bietet mir die Gelegenheit, mit Ihnen über den der Religion im politischen Leben zukommenden Platz nachzudenken. Die jüngste globale Finanzkrise hat nur zu klar gezeigt, dass pragmatische Kurzzeitlösungen für komplexe soziale und ethische Probleme unbrauchbar sind. Es besteht weitgehende Übereinstimmung darüber, dass der Mangel an soliden ethischen Grundlagen für die
wirtschaftliche Tätigkeit zu den großen Schwierigkeiten beigetragen hat, unter denen jetzt Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zu leiden haben. Bei all dem geht es um folgende zentrale Frage: Wo finden wir die ethische Grundlage für politische Entscheidungen? Die katholische Lehrtradition sagt, dass die objektiven Normen für rechtes Handeln der Vernunft zugänglich sind. Es nicht darum, konkrete politische Lösungen vorzuschlagen, was gänzlich außerhalb der Kompetenz der Religion liegt. Es geht vielmehr darum, auf der Suche nach objektiven moralischen Prinzipien zur Reinigung und zur Erhellung der Vernunftanstrengung beizutragen. Diese korrigierende Rolle der Religion gegenüber der Vernunft ist nicht immer willkommen, unter anderem weil entstellte Formen der Religion wie Sektierertum und Fundamentalismus sich selbst als Ursachen schwerer gesellschaftlicher Probleme erweisen können. Diese Verzerrungen der Religion treten ihrerseits dann auf, wenn der reinigenden und strukturierenden Rolle der Vernunft im Bereich der Religion zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es ist also ein Prozess in beide Richtungen. Ohne die Korrekturfunktion der Religion kann jedoch auch die Vernunft den Gefahren einer Verzerrung anheimfallen, wenn sie zum Beispiel von Ideologien manipuliert wird oder auf einseitige Weise zur Anwendung kommt, ohne die Würde der menschlichen Person voll zu berücksichtigen. Ein solcher Missbrauch der Vernunft war es ja auch, der den Sklavenhandel und viele andere gesellschaftliche Übel erst ermöglicht hat, nicht zuletzt die totalitären Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts. Darum würde ich sagen, dass die Welt der Vernunft und die Welt des Glaubens - die Welt der säkularen Rationalität und die Welt religiöser Gläubigkeit - einander brauchen, zum Wohl unserer Zivilisation in einen tiefen und andauernden Dialog zu treten.