Stangls historische Quellen
Der einzige Ort von Thomas Stangl
1. Geschichte Timbuktus
Um 1100 erstmals in arabischen Chroniken erwähnt, entwickelte sich Timbuktu unter der Herrschaft der Reiche Mali (seit 1320) und Songhai (seit 1468) zum Zentrum islamischer Gelehrsamkeit. Vom 14. bis 16. Jahrhundert war es ein bedeutender Handelsplatz und wichtigster Knotenpunkt der Karawanenwege im westlichen Sahel. Mit der marokkanischen Eroberung Songhais (1590) endete die Blütezeit von Timbuktu. Von 1780 bis zur Einnahme durch die Kolonie Französisch-Westafrika 1894 beherrschten die Tuareg die Stadt.
2.1. Alexander Gordon Laing
Der Schotte Alexander Gordon Laing bereiste als Major der britischen Armee Westafrika, um den Verlauf des Niger-Flusses genauer zu bestimmen. Von der britischen Kolonie Sierra Leone aus unternahm er mehrere Expeditionen ins Landesinnere. Wegen Feindseligkeiten zwischen der Britischen Krone und den Aschanti wurde Laing an die Goldküste (heutiges Ghana) abkommandiert und in Kampfhandlungen verstrickt. Laing schrieb während seiner Reisen Notizen und Mitteilungen, die nach seiner Rückkehr nach London im Oktober 1824 auch auf deutsch erschien. Zu diesem Zeitpunkt ist Laing selbst auf Befehl des Kolonialministers Bathurst bereits wieder in Afrika, um von Tripolis nach Timbuktu vorzustoßen. Am 18. August 1826 traf er als erster Europäer in Timbuktu ein, wo er sich bis zum 22. September aufhielt. Auf dem Rückweg wurde er ermordet.
Stangl verwendet sowohl das o.g. Reise-Journal Laings, in dem die Timbuktu-Reise noch nicht vorkommt, als auch die von E.W. Bovill gesammelten Briefe und Dokumente.
2.2 Renè Cailliè
Der Franzose Renè Cailiè bereiste als ägyptischer Araber verkleidet Westafrika. 1828 erreichte er Timbuktu. Von der Stadt war er eher enttäuscht. Cailiè war der erste europäische Forschungsreisende, der aus Timbuktu wieder zurückkehrte und von seinen Eindrücken berichten konnte. Zurück in Frankreich wurde er mit Ruhm bedacht, dennoch wurden seine Berichte oftmals angezweifelt.
Seine Tagebücher erschienen noch 1961 in folgender Edition:
Renè Cailiè: Journal de voyage à Temboctou et à Jennè dans l'Afrique Centrale en 1824, 1825, 1826, 1827 et 1828. Edition nouvelle prèparèe par J. Malicroit. Paris 1961.
Stangl weist darauf hin, dass Cailiès Tagebücher danach nicht wieder aufgelegt wurden und nur 1939 verarbeitet wurden in Galbraith Welchs "The Unveiling of Timbuctoo".
Es ist nicht eindeutig, welche Textgrundlage Stangl bei der Gestaltung der Figur Cailiès verwendete. Wenn er mit Welch gearbeitet hat, so hat er dies in dem Bewusstsein getan, eine bereits trans- oder deformierte Fassung vor sich zu haben, in der die Ideologie von 1939 deutlich spürbar ist.
Häufig taucht die Wendung "schreibt er" auf, wenn suggeriert werden soll, dass Cailiè Dinge in einem Tagebuch notiert. Dennoch gehen Textfragmente von Cailiè nahtlos in Stangls Text über.
Weitere in der Literaturanmerkung genannte Quellen
(1) Djibril Tamsir Niane: Soundjata. 1960.
Niane ist ein 1932 in Guinea geborener Historiker und Autor. Niane wird dafür geschätzt, die Geschichte von "Soundjata" 1960 der westlichen Welt zugänglich gemacht zu haben, indem er die Geschichte übersetzte, welche ihm der Griot Djeli Mamoudou Kouyate erzählte. Soundjata war der legendäre Begründer des Königreichs Mali.
(2) Djibril Tamsir Niane: Recherches sur l'Emprie du Mali au Moyen Age. In: Recherches Africaines, No. 1, janvier 1959.
Beitrag von Niane für eine Fachzeitschrift der Ethnologie. Darin erklärt er die Bedeutung der Griots für die Überlieferung afrikanischer Geschichte. Außerdem bespricht er diverse mögliche Stammbäume des Herrschaftshauses von Mali im Mittelalter.
(3) Melmoth der Wanderer. Übers. v. Friedrich Polakovics.
1820 erschienen horror gothic novel des irischen Autors Charles Robert Maturin, die im 19. Jahrhundert u. a. Hugo, Balzac, Baudelaire und Wilde beeinflusste. Sie handelt von der 150-jährigen Odyssee Melmoths, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat und nun eine Seele sucht, die er dem Teufel statt seiner eigenen geben kann.
Antike Quellen
(1) Herodot (485-424 v. Chr.)
Griechischer Geschichtsschreiber und von Cicero zum "Vater der Geschichtsschreibung" ernannt; er stützte sich oft auf Zeugenbefragungen und ließ auch einander widersprechende Aussagen nebeneinander stehen - ohne den Anspruch auf kritische Geschichtsschreibung.
(2) Gaius Plinius Secundus (23-79 n. Chr.)
Römischer Schriftsteller, der kriegswissenschaftliche, biografische, historische, rhetorische und grammatische Schriften verfasste. Von besonderer Wirkung waren seine detaillierten Naturbeobachtungen in "Naturalis Historia".
(3) Vergil (4 v. Chr. - 65 n. Chr.)
Römischer Dichter und philosophischer Schriftsteller. Seine praktische Philosophie sah das Ziel des Weisen darin, als Vernunftwesen in Entsprechung mit den Gesetzen der Natur zu leben. Als Tragödienschriftsteller verwendete er bekannte griechische Stoffe.
5. Afrikanische Quellen(1) Überlieferungen der Griots
Ein Griot (auch Djeli genannt) ist eine Person, die in einer bestimmten Form des Gesangs lange Texte vorträgt und in dieser Art beträchtliche Teile des Wissens, der Geschichte einer Kultur weitergibt. Die Griots sind insofern Bewahrer und Vermittler der Geschichte ihres Volks und spielen somit eine wichtige Rolle in der mündlichen Überlieferung afrikanischer Geschichte. Die berühmteste Griot-Familie ist die Sippe der Jobarteh (frz. Diabatè), weitere sind die Koitè und die Kouyatè. In den westafrikanischen Staaten ist die Griot-Tradition bis heute lebendig. Niane schreibt in seinem Aufsatz: "Le Griot a ètè le livre vivant des souverains de l'Ouest Africain." Möglicherweise hat Stangl die Informationen zu den Griots Nianes Aufsatz entnommen.
(2) Tarikh ex-Soudan
(dt.: Geschichte des Sudan) ist die mittelalterliche Afrika-Chronik des Historikers Abderrahman es-Sadi el Tombukti aus dem 17. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte der nordwestafrikanischen Königreiche.
6. Forscher(1) Leo Frobenius (1873 - 1938)
War ein deutscher Ethnologe. Er unternahm viele Forschungsreisen nach Afrika, wobei er der afrikanischen Kultur (ungewöhnlich für seine Zeit) großes Interesse entgegenbrachte.
(2) Oskar Lenz (1848 - 1925)
War ein deutsch-österreichischer Geograph, bereiste 1874-77 Westafrika, durchquerte 1879-80 die westliche Sahara von Tanger nach Timbuktu, 1885-87 Afrika vom Kongo bis zur Ostküste.
(3) Roger Bacon (1214-1292)
War englischer Theologe im Franziskanerorden und Naturphilosoph. Er beschäftigte sich mit Geschichtsschreibung, Geographie und Kartographie. Sein Wissen über die weite Welt gewinnt er, wie Stangl, durch intensive Studien in Archiven.
(4) Abu Abdullah Muhammad / Ibn Battuta (1304 - 1377)
War ein berberischer Forschungsreisender. Ibn Battuta, der im Osten bis nach China gelangt war, besuchte das Reich Mali. In seinem Buch "Reisen" berichtet er auch über Timbuktu, welches zu dieser Zeit noch nicht sehr bedeutend war.
(5) John de Mandeville
Nennt sich der unbekannte Verfasser einer zwischen 1357 und 1371 zusammengestellen romanhaften Schilderung einer Reise ins Heilige Land und dem Fernen Osten.
(6) Abraham Ortelius (1527-1598)
War flämischer Kosmograph und Kartograph. 1564 zeichnete er eine Weltkarte und gilt als Autor des ersten Atlas. Er reiste zusammen mit dem Antwerpener Kaufmann und Stadtgeistlichen Johannes Vivianus.
(7) Heinrich Barth (1821-1865)
War klassischer Philologe und Afrikareisender. 1850 schloss er sich in Tripolis der britischen Sudanexpedition unter James Richardson an. Barth drang südwärts bis Adamaua vor (Entdeckung des oberen Benue), ostwärts bis Kanem und Bagirmi (erste Schilderung dieses Landes) und westwärts bis Timbuktu (erste gründliche Beschreibung dieser Stadt, Erforschung des mittleren Niger); 1855 kehrte er als einziger europäischer Teilnehmer nach Tripolis zurück.
(8) Leo Africanus (1490-1550)
War arabischer Reisender und Geograph. Er bereiste von Marokko aus die westlichen Teile der Sahara und des Sudan, besuchte Timbuktu und Bornu. Sein Hauptwerk "Beschreibung Afrikas" galt in Europa lange als wichtigste Quelle über Nordafrika. Africanus erzählte von dem Prunk und Gold des Reiches Songhai und beschrieb den unermesslichen Reichtum der Stadt Timbuktu.
Hierarchisierung der Quellen
1) Soundjata (König von Mali)
2) Mündliche Überlieferung durch Griots
3) Griot Djeli Mamadou Kouyatè (20. Jh.)
4) Niane: Soundjata (schriftliche Aufzeichnung, 1960)
5) Stangl: Der einzige Ort (2004)
Diverse historische Fakten oder Erzählungen werden von Stangl erwähnt oder nacherzählt, ohne dass darauf verwiesen wird, welcher Quelle er sie entnommen hat. Stangl verwendet keine Anführungszeichen und verrät oft nicht, woher er die Informationen hat, bzw. welchen Bücher oder Textausgaben er diese entnommen hat. Auffällig ist, dass eine geschichtliche Begebenheit häufig durch mehrere Überlieferungsstufen 'gefiltert' wird, bevor sie von Stangl eingebaut wird.
8. Verhältnis von Fiktion und Geschichte bzw. Geschichtsschreibung Interpretationsthesen
(1) Alle denkbaren Wünsche werden in den "einzigen Ort" projiziert. Gemessen an den übergroßen Erwartungen, die in Bezug auf Timbuktu geweckt werden, entpuppt sich dieses letzlich als leeres Zentrum.
(2) Als Laing und Cailiè in Timbuktu eintreffen, ist die dreitausendjährige Geschichte, die der Erzähler vor uns ausgefaltet hat, bereits sehr viel größer und mächtiger als die beiden Reisenden selbst. Laing und Cailiè sind bei ihrer Ankunft krank und gebrechlich, keineswegs Helden.
(3) Die Reisenden Laing und Cailiè werden selbst zu Quellen für Geschichtsbücher, aber auch für Literatur. Ein Roman wie "Der einzige Ort" kann etwas zur Sprache bringen, was in den historischen Dokumenten selbst nicht steht.
(4) Stangl verwebt Texte aus allen Jahrhunderten zu einem poetischen Konglomerat und suggeriert damit, dass Geschichte bzw. Geschichtsschreibung selbst Fiktion/Literatur ist.
Stangl: "Die Fakten sind einerseits angelesen, aus den Büchern dieser beiden Helden selbst. Andererseits, bei Handke steht irgendwo von einem Bergsteiger, der versucht hat, eine Beschreibung seines Gipfelerlebnisses zu finden und der sich dazu eines Zitats von jemandem bedient hat, der nur in der Ebene herumgegangen ist. Insofern kann ich auch am Donaukanal stehen und mir den Niger vorstellen."
9. Fragen an den Text
(1) In welcher Beziehung zu Stangls Umgang mit den Quellen und seiner Auffassung von Geschichte steht das Motiv der Kamerafahrt (S. 5, 103, 111, 141, 173)
(2) Thema des Sprachverlusts und der Übersetzung - Was sagt das über die Funktion und Fähigkeiten von Sprache aus? (S. 99, 102, 129, 201, 315)
(3) Warum wählt Stangl gerade Cailiè und Laing aus? Wie wirkt das parallele Erzählen beider Geschichten, die sich zunehmend dichter verweben?
(4) Hat die Thematik des leeren Zentrums eine besondere Brisanz für das beginnende 21. Jahrhundert?