Gestatten - mein Name ist Kratzbürste
Mein Leben in Shenyang China
Letztes Wochenende war ich etwas unleidig. Die Nachwirkungen vom Yoga, wie ich dachte. Yoga ist nicht etwa 90 Minuten am Boden liegen, entspannen und schlafen, nein, entgegen der Meinung meines Mannes (und auch der Männer anderer Teilnehmerinnen) ist es eine Sportart, die nun wirklich jeden Zentimeter des Körpers fordert. Dies spiegelt sich bereits wenige Stunden nach dem Unterricht wider. Bei mir war also wieder einmal Muskelziehen der besonderen Art angesagt. Das gehört dazu, da muss man durch. Komisch nur, dass es die übrigen Yogaretten (wie wir von Heiner genannt werden) nicht so erwischt hatte, wie mich. Und das, obwohl ich doch nun die Geübteste der Truppe bin. Hab es halt übertrieben, dachte ich.
Sonntags wurde es noch schlimmer. Es waren richtige Schmerzen, dazu höllischer Kopfschmerz und überhaupt. Eine Tablette musste her. Die hat geholfen – zunächst. Nach zwei Stunden waren die Schmerzen wieder da. Stärker als vorher und nun auch noch mit Magenkrämpfen. An Schlaf war in der Nacht auf Montag nicht zu denken. Montag steigerte sich das Wehleiden erneut, und morgens kamen noch heftige Schluckbeschwerden mit Halsschmerzen und allem Drum und Dran dazu. Achsoooo! Jetzt war klar, warum die Muskelschmerzen so heftig waren. Ein Virus hat mich erwischt. Na toll! Gerade jetzt. Terminkalender voller denn je, tausend Dinge müssen erledigt oder besorgt werden. Körperlich fühlte ich mich von einer Stunde auf die andere völlig am Ende. Schlimmer als jemals zuvor. Von den Schmerzen mal ganz abgesehen, die es mir mittlerweile unmöglich machten, mich von A nach B zu bewegen. Liegen ging schon gar nicht, und sitzen war am schlimmsten. Ja was denn nun?!
Langsam hatte ich die Befürchtung, dass sich meine Bandscheibe vielleicht nicht mehr so ganz auf dem ihr zugewiesenen Platz befand. Dienstag waren die Schmerzen dann unbeschreiblich und der Medikamentenschrank wurde auf den Kopf gestellt. Ibuprofen, Paracetamol, Muskelrelaxans, alles war mir recht – nur endlich, endlich schmerzfrei sein und schlafen können. Nichts hat geholfen. Heiner war nicht mehr ganz wohl mittlerweile und er sorgte sich sehr. Ich wollte nur meine Ruhe und war nicht wirklich ansprechbar. Wie eine Gebärende, die versucht Ihre Wehen wegzuhecheln (wenn ich auch nicht weiß, wie das ist oder geht ...) war ich ganz auf mich und meine Schmerzen fixiert. Nachdem mein körperliches Befinden mich zur Haltung einer 98-Jährigen zwang, die dazu unter heftigem Parkinson zu leiden hat (Schüttelfrost), wurde die SOS-Klinik in Peking beordert. Diese veranlasste eine Noteinweisung in das Hospital Number One in Shenyang. Auch das noch! Aber ich war nicht mehr fähig zu widersprechen.
9 Uhr morgens im Krankenhaus, wartend auf die Ärztin. Ich war eine Notaufnahme, wohlgemerkt. Seitlich liegend auf der Besucherpritsche und hoffend, dass es nun endlich etwas gegen die Schmerzen gibt. Da kommen unzählige Helferinnen, die wissen möchten, was denn nun genau weh tut. „Alles“, so meine Worte. Hilfloser Blick an Heiner, der meint „das sagen wir der Ärztin und nicht ihnen“. Hoppla. Helferin: „Aber die Ärztin ist unterwegs und möchte telefonisch vorab informiert werden“. Heiner: „Trotzdem“. Punkt. Dazwischen kommt ein Neurologe vorbeimarschiert, dem nach der Hälfte meiner Krankengeschichte einfällt, dass er ja eigentlich im falschen Zimmer ist und noch diverse andere Helferinnen, die ihr Glück versuchen, sich aber heftig die Zähne ausbeißen an Heiner. Ich immer noch liegend, schon ziemlich genervt und leicht verzweifelt „warum hilft mir nur niemand?“
10 Uhr, immer noch keine Ärztin. „Just a moment, she is on the way“ haben wir mehr als ein Dutzend Mal vernommen. Dazwischen wird Fieber gemessen. Ich und Fieber, natürlich hab ich KEIN Fieber, hatte ich noch NIE!! Von wegen, 39.2. „Das Thermometer ist bestimmt kaputt“. War es aber nicht! Endlich geht die Tür auf und Mrs Weißkittel erscheint. Und: Sie spricht Deutsch! Ha! Ich zwinge mich erneut ein paar verständliche Worte aus meinem verkrampften Körper zu quetschen und sie meint „Ach, ich kennen, bestimmt seien Schmerzen von Fieber, das kommt immer hinten. Ich auch heute mit Fieber arbeiten und schlimmen Durchfall, auch haben Schmerzen, ich kennen“. Tja, da bleibt einem dann schon Mal kurz der Mund offen stehen. Die scheint ja richtig fit zu sein, was?! „Verstehe ich sie richtig: Sie wollen behaupten, dass meine Schmerzen vom Fieber kommen? Schmerzen, die seit fünf Tagen immer heftiger werden, mit Schmerzmittel nicht kontrollierbar sind und so stark, dass ich weder liegen, sitzen noch stehen kann? Könnte es nicht durchaus sein, dass ich eventuell Probleme mit der Bandscheibe habe?“ – Antwort: „ach so. Ja. Das könnte sein.“ Gut. Dann müssen wir aber auch auf den Orthopäden warten, denn sie sei schließlich keine Fachärztin. Und überhaupt müsste man da eine „Magnesium Vorstellung“ machen. „Was bitteschön?“ Na ja, sie wüsste es nicht genau auf Deutsch, aber ungefähr wie eine Magnesium Vorstellung eben. Mein Gott, machen sie mit mir was sie wollen, aber geben sie mir verdammt noch mal was gegen die Schmerzen, war alles, was ich zu erwidern hatte.
Erneut 20 Minuten warten. Ein ca. 70-jähriger Orthopäde wird nun vorstellig. Was ich aus dem Chinesischen verstehe, ist: „Der große Zeh wackelt noch“. Hmmm, ist das jetzt wieder eine ihrer komischen Redewendungen oder was? Aber er hat recht, mein großer Zeh wackelt noch. Ohne Schmerzen und ohne Taubheitsgefühl. Gleich 11.30 Uhr. Immer noch kein Schmerzmittel, dafür Termin für MRI, das Ding mit dem Magnesium. Morgen 11 Uhr. Ja und jetzt? „Jetzt wieder heimfahren und morgen wiederkommen“. So. Das war es. Startschuss! Heiner darf anfangen, er ist größer, älter und kräftiger als ich. „Meine Frau liegt hier seit 3 Stunden, eingeliefert als Notaufnahme. Wie sie unschwer erkennen können, ist sie nicht mehr fähig sich selbst auf den Beinen zu halten. Wir warten seit 3 Stunden und sie haben es nicht geschafft, ihr bis jetzt ein Schmerzmittel zu verabreichen. Sie hat hohes Fieber und wirft sich hier nicht zum Spaß auf der Liege rum. Und nun wollen Sie uns ernsthaft nach Hause schicken, ohne alles?? Ja was glauben sie eigentlich, wofür wir hier gerade den dreifachen Durchschnittslohn eines Chinesen bezahlt haben?! Bringen sie jetzt auf der Stelle etwas gegen die Schmerzen, oder holen sie ihren Vorgesetzten!“
Ich hab mich erst mal ausgeklinkt, will heim, in die Badewanne. Einziger Ort der letzten Tage, der mir die Schmerzen erträglich macht. Jetzt kontert Ärztin Fünf (so die Übersetzung ihres Namens, zumindest in meinem eingeschränkten Chinesisch) „Muss man immer warten. Wir viele Menschen in China. Wenn nicht wissen, was der Schmerz, kann nicht geben Mittel um es. Auch in Deutschland muss warten. Untersuchen erst machen, dann finden Medikamente.“ So, Nummer 5 lebt noch, hat sie eben bewiesen, trotz Fieber und Durchfall. Jetzt will ich auch noch: „Darf ich sinnvollerweise noch fragen, WAS sie unter einer Untersuchung verstehen? Neurologen, die sich im Zimmer irren oder Orthopäden die mit den Zehen wackeln? Wäre es nicht einfach angebracht, wie meines Wissens weltweit üblich, mir Blut und Urin abzunehmen, um dies zu untersuchen? Da könnten wir doch das Ergebnis längst auf dem Tisch haben, oder etwa nicht?“ – Antwort: „ach so. Ja. Wollen Sie das denn?“ Hääääää??? Also gut, nun noch kurz Flüssigkeiten abgegeben und „kurz“ eine halbe Stunde gewartet, schon kommt ein Päckchen Tabletten in der Hand von Nummer 5 die Tür herein. „Darf nur eine Packung geben. Nie mehr! Immer nur eine Packung für jedes Mensch. 1 Tablette, alle 6 Wochen“ – meinen Blick hätte ich selbst gern sehen wollen. Sie meinte natürlich Stunden, nicht Wochen. Dieser Fauxpas war das i-Tuepfelchen für Heiner und mich. Seitdem lachen wir uns bei jeder Tablette schief ... und das wird wohl noch eine zeitlang so bleiben.
Hier wird das Fussvolk behandelt ... gleicht eher einem Mini-Kino
Nach 4 Stunden verlassen wir das Hospital Number One, mit Schmerzen, aber auch mit Schmerzmittel. Weitere 30 Minuten später beginnt das Mittel zu wirken und ich fühle mich erst mal als neuer Mensch. Schmerzen werden erträglich. Endlich schlafen. Nach 3 Stunden wache ich unter Schmerzen auf, messe Fieber: 40.4
Bis zum nächsten Tag im KKH sind 5 Tabletten geschluckt. 3 waren erlaubt. Ich werde bereits erwartet von Nummer 5 mit Anhang. Alle in höchster Aufruhr. „Schlechte Bewertung. Ganz, ganz schlechte Bewertung. Ihre Blut und Urin. Bakterieninfektion, müssen machen Infusion.“ Schon lieg ich da in meinem Fieberwahn mit Schüttelfrost, alle um mich rum. Fieber messen, Händchen halten die eisekalt sind, mir doch alles egal. Will nur schlafen. Nach der Infusion geht es zum Ultraschall. Keine Nierensteine, aber eine Nierenbeckenentzündung. Na also! Dann wissen wir doch endlich, wo der Hund begraben liegt. Nun gibt es täglich Penicillin intravenös und noch zusätzlich ein Breitbandantibiotikum zum Schlucken. Na, wenn das nicht hilft.
Die Magnesium Vorstellung entpuppt sich als Kernspin. Magnetresonanztomografie erkläre ich Nummer 5, damit sie in Zukunft mit ihrer Magnesiumvorstellung nicht noch anderen Patienten Angst einjagt. OK, also ab in die Röhre. Wären da nicht 12 Chinesen vor mir auf engstem Raum, alle in ihren langen Unterhosen. Nur ich natürlich fully dressed. Wie, kein Metall?! Klar, überall. In den Nieten der Jeans, im BH im Bauchnabel ... Ja und wo soll ich mich jetzt bitteschön ausziehen Frau Doktor? Ich trage KEINE lange Unterhosen oder dergleichen. IM GEGENTEIL! Tja, Umkleide gibt es nicht. Eben mal das Bauchnabelpiercing rausgeschraubt. Da haben die aber große Augen bekommen sag ich Euch. Das haben die bestimmt noch nie gesehen. Eine wollte sogar hinfassen, da hab ich ihr aber einen Patscher aufs Händchen verpasst. „Wirst du das wohl bleiben lassen?“! So, was blieb mir anderes übrig, auch noch der BH.Das geht ja, wenn auch etwas umständlich, auch so a la Flashdance, erinnert sich da überhaupt noch jemand?? Mit der Hose hatte ich zugegebenermaßen so meine Probleme. Aber ich wurde erlöst, als just das Tor sich öffnete und der sich dahinter befindliche Arzt meinte, die könne ich erst mal anlassen. Puh! In meinem Zustand empfand ich das Dröhnen, Hämmern und Klopfen in der mittelalterlichen Röhre als angenehm. Konnte endlich ungestört liegen und ein wenig dösen. Nun ja, so ging das drei Tage lang. Anstatt sich in Ruhe daheim auszukurieren, musste ich täglich zur Infusion, zum Blut und Urin abnehmen und zum Warten auf irgendwas ins Krankenhaus.
Immer was los hier ...
Das Fieber blieb oben. Drei Tage über 40. Als die Ärzte schon ungeduldig wurden, gewann mein Körper endlich den Kampf gegen die Bakterien. Die letzte Infusion wurde angezapft und ich fühlte mich langsam besser. So eine Infusion dauert etwas über 2 Stunden. Zeit, in der ich hätte schlafen wollen und können, wäre da am letzten Tag nicht alle fünf Minuten die Tür aufgerissen worden. Immer abwechselnd guckte eine der Häubchenträgerinnen, ob denn alles in Ordnung wäre und das, obwohl ich einen Notfallsensor in der Hand hielt. Dies veranlasste mich irgendwann zu dem Ausruf: „Ja Himmelherrgott noch mal, was ist denn nun schon wieder. Hat man hier denn keine Ruhe“. Missy NoName guckt mich an und sagt: „ Sorry, I don´t speak german“. Ich lächle und sage: „If you believe or not. I know, that you don't speak german. And exactly for this reason I speak German!” Meine Geduld ist am Ende und ich informiere sie darüber, dass nun entweder ein Schild “bitte nicht stören” an der Tür angebracht wird, oder ich ansonsten samt Infusionsständer das Krankenhaus verlasse. Was soll ich sagen. Es funktionierte!
Noch geschwächt, aber in Vorfreude darauf, nun endlich zu Hause Ruhe zu finden, verließ ich das Hospital Number One. Die 12-spurige Straße musste nur noch mittels Fußgängerbrücke überquert werden. Rechter und linker Hand des Brückchens befinden sich jeweils ca. 50 cm breite Streifen, gedacht um Fahrräder dort entlang zu schieben. In der Mitte dann die Stufen. Diese sind allerdings von fliegenden Händlern besetzt, sodass man sich wohl oder übel durch die Massen am Rande der Brücke quetschen muss. Fremden Menschen so nahe kommen zu müssen ist nichts für uns Europäer. Das ist einfach so. Ich also fluchend und stoßend auf dem Weg zur anderen Seite der Straße. Da springt mir ein Holzwarenhändler ins Auge, der so eine Art Kratzmassagebürsten anbietet. Ha! Luis sei Dank, die muss ich haben! So sehen die aus:
Schnell um den Preis gefeilscht und ein paar dieser Teile erstanden. So. Nun brauch ich nur noch ein Taxi. Aber wo sind die alle! Normalerweise wimmelt es nur so von diesen hupenden und klappernden Gefährten. Lieber Gott, lass das nicht wahr sein, denk ich mir. Aber, er hat kein Erbarmen. Mir fällt schnell auf, dass auch die Einheimischen reihenweise am Straßenrand nach einem Taxi Ausschau halten. Ich höre immer wieder wie sie verzweifelt rufen: „Er hält nicht, er hält nicht!“ Tja, was macht man da? Blick aufs Handy, Akku leer. Ach, sind ja nur 20 km nach Hause. In meinem Zustand ein Kinderspiel. Marschiere weiter und beobachte die ersten Kämpfe. Chinesen sind recht schmerzfrei, wenn es darum geht, Erster sein zu wollen. Da kann es einem auch passieren, mal eben an der Bushaltestelle mit einem Kinnhaken KO geschlagen zu werden, weil man versucht sich als Erster durch die Tür zu drücken. Ist hier so normal, dass sich darüber nur noch Neulinge brüskieren. Aber heute wird es Ernst. Ich bin allein unterwegs und WILL nach Hause. Das heißt, ich muss geschickt vorgehen. Nach einer Stunde Fußmarsch und sichtlich erschöpft, hole ich meine Kratzbürsten aus der Tasche, in jede Hand eine. So stelle ich mich unter eine Menge wartender Menschen.
Hier läuft das so: Ein Taxi kommt angefahren, reduziert das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit, das Fenster steht sowieso immer offen (ist hier einfach so) der Fahrer brüllt „Wohin“ und alle schreien wild durcheinander, und laufen gleichzeitig neben dem Taxi her. Der Fahrer brüllt entweder „Du“ oder „geht nicht“, dann muss der Auserwählte laufenden Schrittes in das fahrende Taxi hopsen. Als Frau mit Kind und vielleicht sogar noch Kinderwagen ist man hier chancenlos. Deshalb gibt es wohl auch keine Kinderwägen in China! Ha! Genau. Ich bahne mir meinen Weg durch die Leute, mithilfe meiner eben erstandenen Gefährten und schreie so laut ich kann: „Ich zahl das doppelte“. Und schau einer an, der Fahrer beugt sich zur Beifahrerseite und öffnet sogar die Tür für mich. Keiner schreit, keiner stößt mich, alle sind verblüfft. Ja Leute, so geht das! Genau so! Und spätestens nun weiß ich auch, warum sich all die Qual des Lernens gelohnt hat. 4 Jahre Chinesisch büffeln, gerade für diesen einen Augenblick. Es ist wie eine Erleuchtung. Was hätte ich getan, an einem Tag wie diesem? Der nächste Tag ist Nationalfeiertag, deshalb wären keine Taxis verfügbar, so die Erklärung des Fahrers. 4 Jahre China, mit unzähligen Erlebnissen dieser Art, 4 Jahre Freude und Verzweiflung, 4 Jahre meines Lebens, die ich nicht missen, aber auch nicht noch einmal durchmachen möchte. 4 ganz besondere Jahre. Warum besonders? Weil man alles so unglaublich intensiv erlebt, weil man weiß, dass die Zeit begrenzt ist, weil man sich an jeden Monat dieser 4 Jahre genau erinnern kann. Weil man sich verändert, die Welt und die Menschen plötzlich aus einem anderen Blickwinkel sieht. Weil diese Zeit unvergessen bleiben wird.
Danke China - dass wir eine Weile bleiben durften und eintauchen, in Deine uns doch so fremde Welt!