Elly Kreeb

Die drei Silberpappeln

Silberpappeln als Baumschmuck vor Hochhaus


Bei meinem Einzug in das fünfzehngeschossige Hochhaus standen die drei Silberpappeln in ihrer spitzen Form bereits links vom Hauseingang. Damals waren sie noch schlank und pfeilgerade gewachsen: sie störten niemanden!

Im Laufe der Jahre wuchsen sie schnell in die Höhe und gingen kräftig in die Breite. Im Sommer, wenn ihre Äste leicht im Wind schwankten, vernahm man das klappernde Geräusch ihrer silbrigen Blätter in den Wohnungen. Bei Nacht flüsterten und zitterten sie im Wind. Das säuselnde Geräusch ihrer Blätter beruhigte die lädierten Nerven der Hausbewohner.

Gegen die anderen Bäume auf dem Rasen vor dem Haus hoben sich die Silberpappeln deutlich hervor, da sie nicht über deren sattes Grün verfügten. Die Blätter der Pappeln wirkten durch die Behaarung ihrer Unterseite eher graugrün. Dadurch bildeten sie einen herrlichen Kontrast zur übrigen Vegetation vor dem Haus.

Im Herbst verfärbten sich die Blätter der Pappeln hellgelb. Bald darauf wehten die kräftigen Herbststürme sie vollends herunter. Ab Mitte November saßen schwarz gefiederte Amseln mit ihren orangegelben Schnäbeln in den dürren Astgabeln und ließen ihren melodischen Gesang erklingen. So durften die Pappeln mit dem Wechsel der Jahreszeiten viele Jahre lang ihr Kleid zur Freude der Bewohner verändern.

Doch allmählich wurden Stimmen laut, die sich beklagten, dass die Pappeln den Bewohnern in den unteren Etagen das Tageslicht reduzierten und sie der unverbaubaren Aussicht beraubten. Zudem hatte die Hausverwaltung inzwischen erkannt, dass die langen, tiefgreifenden Wurzeln der drei Bäume auf die Kanalisationsrohre drückten. An der Oberfläche des mit Pflaster belegten Gehwegs waren die Verwerfungen bereits sichtbar.

Pappeln sind eben für die Bepflanzung eines Hauseingangs unpassend. Sie lieben vielmehr feuchte Stellen und sind eher für Flussufer und -auen geeignet. Abgesehen von ihrer Schönheit sind Pappeln auch nützlich. Ihr weiches Stammholz wird für Streichhölzer sowie zur Zellulosegewinnung verwendet. Aus dem Knospenharz der Pappeln, das mit Wirkstoffen der Biene bereichert wird, stellt man die im Handel erhältliche Propolis-Salbe her. Diese wohlriechende, gelbe Salbe hilft bei Haut-Ekzemen, Schuppenflechte und Bronchitis

Silberpappeln als Baumschmuck vor Hochhaus
Silberpappeln als Baumschmuck vor Hochhaus

Text Silberpappeln

In letzter Zeit waren die Proteste der unteren Bewohner des Hauses stärker geworden: Sie verlangten, dass man die Pappeln fällen solle. Die direkt neben dem Hauseingang stehende Pappel nahm den Bewohnern das meiste Licht weg und so beschloss die Hausverwaltung, wenigstens diese Pappel fällen zu lassen. Nach dem Absägen des Stammes blieben jedoch aus Versehen zwei Triebe stehen. Diese wuchsen schnell zusammen und strebten als neue, junge Pappel gen Himmel. Bald war die vorderste Pappel sogar die höchste von den dreien.

Da fragten sich die Bewohner untereinander: Wie hoch können Pappeln eigentlich wachsen? Einer meinte: so hoch wie das ganze Haus! Da begann auch ich um meine schöne, unverbaubare Aussicht in der siebenten Etage zu bangen. Ein Lexikon belehrte mich jedoch, dass Pappeln ihr Wachstum bei einer Höhe von dreißig Metern beenden. Als die Spitze der obersten Pappel nach etwa fünfzehn Jahren meine Loggia erreicht hatte, genoss ich verstärkt den herrlichen Anblick, da ich ahnte, dass ihres Lebens nicht mehr lange sein würde.
 

Text Silberpappeln

Doch inzwischen griffen einige Eigentümer zur Selbsthilfe: Während der Nachtzeit sägten sie ein paar Äste aus den Pappeln, um mehr Licht zu erhalten; andere schlugen Kupfernägel in die Stämme der Pappeln. Doch all das half nichts! Nach fast zwanzig Jahren fand sich bei einer Eigentümerversammlung endlich die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit aller Stimmen für das Fällen der drei Pappeln: Wir Eigentümer hatten das leidige Thema satt, obwohl es jammerschade war um die stattlichen, schönen Silberpappeln.

An einem kalten Januartag mit sanftem Schneefall war es soweit: Schon kurz nach sieben in der Früh hörte ich das Geräusch einer Motorsäge. Ich trat schlaftrunken  auf meine Loggia hinaus und sah hinunter: mir stockte der Atem …! Die zwei weiter unten stehenden Pappeln waren bereits gefällt und lagen quer über den Gehweg.
 

Text Silberpappeln

Drei Männer waren gerade dabei, mit einer elektrischen Kettensäge dem Baum unter meiner Loggia zu Leibe zu rücken. In einer Astgabel befand sich noch ein leeres Vogelnest, das mit dem Baum zu Boden fiel. Worauf ich schnell mit dem Lift hinunter fuhr, um wenigstens noch ein paar Zweige aus den Ästen der Pappel zu schneiden. Ich stellte sie in eine Vase und bald kamen die Blätter in ihrer alten Schönheit wieder zum Vorschein.

Als ich das Wohnzimmer betrat, fiel mein Blick auf den über der Couch hängenden Druck von Claude Monet: „Felder im Frühling“. Darauf waren sie ja abgebildet, meine geliebten drei Pappeln: hoch und schlank stoßen sie mit ihren Spitzen an den oberen Bildrand. Das flimmernde Blau-Grün der Monet’schen Pappeln mit ihren rotbraunen Stämmen ist schließlich viel farbenfreudiger als die gefällten Silberpappeln.

Die niederen drei Kugelahorn-Bäume, die bald darauf an die Stelle der Pappeln gepflanzt wurden, störten niemanden mehr!